Jugendarbeit und Landflucht: Wenn die Postleitzahl Identität stiftet
Was braucht es, damit sich Jugendliche in Ihrer Wohngemeinde verankert fühlen? Wie gelingt Partizipation in physischen und digitalen Lebensräumen? Und welche Rollen spielen die Gemeinden und die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) darin? Um die 50 Fachleute aus Gemeinden und Jugendfachstellen trafen sich letzte Woche am 13. Impulsabend zur Weiterbildung und Vernetzung für Berner Gemeinden, um diese Fragen zu beantworten.
Nach der Begrüssung durch Cécile Wendling, der Stiftungsratspräsidentin der Berner Gesundheit, treten Wissenschaft und Praxis in den Dialog. Martin Leuenberger ist Stellenleiter der offenen Kinder- und Jugendarbeit Region Jungfrau und Vorstandsmitglied des Verbands der Offenen Kinder- und Jugendarbeit des Kantons Bern. Für ihn ist klar, dass öffentlicher Raum eine wichtige Funktion hat. Hier gelte es, Werte und Normen zu verhandeln und auszuprobieren. Das sei für das gesunde Heranwachsen von jungen Menschen essenziell. Ob virtuelle Räume diese Funktion unterdessen übernommen hätten? «Wir Erwachsene sehen oftmals einen Gegensatz zwischen on- und offline Welten», so Rahel Heeg. Sie ist Co-Leiterin des Instituts Kinder- und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und hat sich anlässlich dieser Impulsveranstaltung einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand verschafft. Diese vermeintliche Dichotomie zwischen digitalem und physischem Raum zeige sich beispielsweise, wenn wir Jugendliche ermahnten, «mal wieder mit Freund:innen abzumachen oder ein Buch zu lesen», so Heeg. Dass dies heute ebenso online stattfindet, hätten Erwachsene oftmals nicht auf dem Schirm. Das spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Evidenz: So weiss die James-Studie (2022), was junge Menschen in ihrer Freizeit am liebsten mit Freund:innen unternehmen: Gespräche führen. Ob dies bei einem Spaziergang, einem Shoppingtrip, im Ausgang oder online passiert, wissen wir nicht. Was wir wissen: Ob Freizeit on- oder offline stattfindet, sagt nichts darüber aus, ob Jugendliche dabei sozial interagieren oder für sich konsumieren. Oder wie Leuenberger es ausdrückt: «Auch wenn eine Gruppe Jugendlicher alle auf ihr Smartphone starren, kann es sein, dass sie sich gerade online miteinander austauschen».
Partizipation als Schlüssel
Zu denken gibt die UNICEF-Kinderrechtsstudie von 2021, die 9- bis 17-Jährige in der Schweiz befragt. Ob Erwachsene den jungen Menschen zuhören? Nur 45% bejahen. Ob Erwachsene Zeit für sie haben? Lediglich 40% sehen das so. Ob Erwachsene nach ihrer Meinung fragen? Weniger als ein Drittel stimmt dem zu. Heeg ordnet ein: «Das ist ein Hinweis dafür, dass Kinder und Jugendliche sich nicht beteiligt fühlen», was Leuenberger bestätigt: «Das beschäftigt die OKJA seit vielen Jahren: Kinder und Jugendliche zu beteiligen». Denn Gemeinden seien oft nicht kinder- und jugendfreundlich. «Hier hat die OKJA eine Scharnierfunktion wahrzunehmen», so Leuenberger. Schliesslich könnten sich auch Kinder politisch äussern, dabei brauche es lediglich Übersetzung. Dieses «Zuhören» müssten viele Gemeinden erst noch lernen. Das sei auch das wichtigste Rezept gegen Abwanderung und Landflucht: Identität stiften in der Wohngemeinde. Das gelinge am besten, wenn junge Menschen aktiv in politische Prozesse eingebunden werden, wenn sie Selbstwirksamkeit erfahren und vor Ort partizipieren können.
Hingehen, wo Jugendliche sind
Das anschliessende Podium bringt Politik und OKJA-Praxis in den Dialog. Jasmin Hari ist Gemeinderätin von Oberdiessbach. Auf die Frage, wie die Jugend-Bedürfnisse hier in die Politik kommen, ist ihre Antwort klar: «Ich muss es als Gemeinderätin zu meiner Aufgabe machen, auf die Lebensrealität der Jugendlichen einzugehen, um sie zu verstehen». Dass es manchmal auch umgekehrt funktioniert, illustriert das Beispiel eines Zwölfjährigen in Haris Gemeinde. Kurz nach ihrer Wahl in den Gemeinderat ging er persönlich auf Hari zu, um einen Skatepark zu fordern. Nachdem sie ihm den politischen Prozess der Petition erklärt hatte, dauerte es nicht lange, bis er über 200 Unterschriften beisammen hatte, um sein Anliegen in den Gemeinderat zu tragen. Zwar wurde daraus kein Skatepark, aber die Gemeinde hat heute eine mobile Pumptrack-Anlage.
Dass ‘Angebote’ für Jugendliche dann zu ‘ihren Projekten’ werden, wenn diese sie selbst gestalten, betont Simeon Gehri. Er ist Stellenleiter der OKJA Niesen, welche verschiedene Gemeinden von Diemtigen über Frutigen bis Kandersteg betreut. Jugendarbeit müsse dort passieren, wo sich die Jugendlichen aufhalten – sozialraumorientiert, wie es im Jargon heisst. Dass dies für physische Räume ebenso gelte wie für virtuelle, sagt Thomas Bertschinger, Stellenleiter des Trägervereins OKJA Oberaargau. Deshalb begleiten Mitarbeitende seines Vereins Jugendliche heute auch online. Und sie bewegen sich selbstverständlich auf Social Media, um ihr Klientel zu erreichen. Dass sich Jugendliche trotz all der virtuellen Möglichkeiten und vielfältigen Mobilitätsoptionen nach wie vor stark mit ihrem Wohnort identifizierten, zeige die Tatsache, dass an praktisch jedem Jugendraum die Postleitzahl gesprayt sei. «Den Jugendlichen bedeutet ihre PLZ viel, dezentrale OKJA-Angebote gehören dementsprechend dazu», so Bertschinger.
Viel Erkenntnis gab mitzunehmen es an diesem Abend: Dass Gemeinden mehr tun können, um kinder- und jugendfreundlicher zu werden. Dass die Währung der OKJA Zuhören, Übersetzen und Präsenz ist. Oder schlicht: Dass ein guter Ratgeber für alle Akteur:innen die Erinnerung an die eigene Jugendzeit ist, auch wenn es damals noch keine virtuellen Räume gab – Postleitzahlen sind geblieben.
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