«Zentral ist, dass Familien mit einer Suchtproblematik unkompliziert, niederschwellig und ohne Stigmatisierung Unterstützung erhalten»
Das Umfeld von Familien mit einem suchtkranken Elternteil kann eine wichtige soziale Ressource sein. Eine davon ist die Schulsozialarbeit. Mit ihrem Angebot kann sie die Ängste und Sorgen der betroffenen Kinder und Jugendlichen aufgreifen und sie angemessen unterstützen. Schulsozialarbeiterin Anita von Gunten-Feldmann erläutert im Interview die Chancen und Grenzen der Schulsozialarbeit, wie sie das erweiterte Umfeld in Beratungen miteinbezieht und erzählt aus ihrem Arbeitsalltag.
Frau von Gunten-Feldmann, Sie arbeiten als Schulsozialarbeiterin auf dem Land, an der Grenze zum idyllischen Emmental. Oft ist zu hören, Familien mit Suchtproblemen gäbe es doch nur in der Stadt – ein Klischee?
Anita von Gunten-Feldmann: Oft denken wir bei Suchtproblemen an sogenannte harte Drogen und gehen davon aus, dass diese nur in urbanen Gegenden Thema sind. Dies ist ein Trugschluss, denn auch auf dem Land kommt es zum Konsum von Drogen. Weiter geht vergessen, dass ein missbräuchlicher Alkohol- oder Medikamentenkonsum auch zur Sucht führen kann. Dasselbe gilt für den Umgang mit digitalen Medien, Kauf- oder Spielsucht. Stoffgebundene Süchte richten zugegeben meist mehr körperlichen Schaden an. Sucht hat aber immer Auswirkungen auf das Familienleben. Daher ist Sucht auch in angeblichen ländlichen Idyllen ein Thema.
Wie merken Sie, dass ein Kind unter Suchtproblemen eines Elternteils zu Hause leidet und Ihre Hilfe und Unterstützung braucht?
Anita von Gunten-Feldmann: Meist wird ein Leidensdruck bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen in den Beratungsgesprächen, durch Beobachtungen von Betreuungs-, Lehr- oder besorgten Bezugspersonen der Betroffenen festgestellt. Manchmal melden sich auch Elternteile bei der Schulsozialarbeit. Die Auswirkungen auf betroffene Kinder und Jugendliche sind sehr unterschiedlich. Gekoppelte Themen können Ängste, Vernachlässigung, familiäre Konflikte und finanzielle Probleme der Familie sein.
Wie gehen Sie in solchen Fällen vor? Welche Unterstützung können Sie bieten?
Anita von Gunten-Feldmann: Wenn die Suchtthematik transparent und in Behandlung ist, hat die Familie bereits Unterstützung oder erhält diese zeitnah. Dann ist es meist die Aufgabe der Schulsozialarbeit, die Ängste und Sorgen der Kinder und Jugendlichen aufzugreifen. Oft haben Jugendliche Angst, sie könnten selber süchtig werden und möchten für sich Strategien lernen, um dies zu verhindern. Die jüngeren Kinder verstehen meist nicht ganz, was in der Familie passiert, spüren aber, dass etwas nicht in Ordnung ist. Da gilt es dies altersgerecht anzugehen.
Wo stossen Sie an Ihre Grenzen bzw. Möglichkeiten?
Anita von Gunten-Feldmann: Schwieriger ist es, wenn Kinder in der Beratung diffuses erzählen, d.h. wenn keine klaren Fakten auf dem Tisch liegen. Die Schulsozialarbeit stösst an Grenzen, wenn die familiäre Situation belastet scheint, die Gründe dafür unklar sind und damit für uns schwierig einzuschätzen ist, welche Massnahmen für Entlastung sorgen könnten. Es ist nicht die Aufgabe der Schulsozialarbeit, ein Suchtproblem aufzudecken. Viel wichtiger ist es, das Kind mit seinen Ängsten und Sorgen ernst zu nehmen und in der aktuellen Situation zu unterstützen. Bei erkannten Betreuungsdefiziten oder fehlender Unterstützung kann die Schulsozialarbeit mithelfen, angemessene Lösungen zu suchen oder die Betroffenen mit einer entsprechenden Fachstelle zu vernetzen.
Wenn wir einen Verdacht haben, dass das Kindswohl gefährdet ist und die Familie keine Hilfe in Anspruch nehmen kann oder will, ist die Schulsozialarbeit von Gesetzes wegen verpflichtet, dies zu melden. Hier können wir das Kind stützen und mit der Schule schauen, wie das Kind den Schulalltag bewältigen kann.
Wenn mit den Eltern thematisiert wurde, dass ihr Kind unter der familiären Situation leidet, erlebe ich es selten, dass diese keine Unterstützung in Anspruch nehmen wollen. Ich bin überzeugt und erlebe immer wieder, dass Eltern das Beste möchten für ihre Kinder und daher auch Unterstützungsangebote nutzen. Wie weit diese Unterstützung geht und ob auch andere Fachstellen involviert sind, ist von Familie zu Familie unterschiedlich.
Welche Rolle spielt das Umfeld einer betroffenen Familie? Wie beziehen Sie dies mit ein?
Anita von Gunten-Feldmann: Wichtig erscheint mir, dass die Kinder und Jugendlichen sich der Situation nicht ausgeliefert fühlen. Hier kann das Umfeld eine wichtige soziale Ressource sein. Sei es, dass die Kinder bei weiteren Bezugspersonen ein offenes Ohr finden, eine Auszeit machen können oder diese den Kindern in der Alltagsbewältigung (Hausaufgabenhilfe, Begleitung zu Freizeitaktivitäten, etc.) zur Seite stehen. Wie diese Unterstützung aussieht, ist von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Es gehört zu den Aufgaben der Schulsozialarbeit zu schauen, welche Unterstützung das Umfeld bieten kann. Dabei kann es vorkommen, dass Eltern oder weitere Bezugspersonen von der Schulsozialarbeit kontaktiert werden, um die Unterstützungsmöglichkeiten zu besprechen.
Welche Rolle spielen die Angebote der Berner Gesundheit in diesem Zusammenhang?
Anita von Gunten-Feldmann: Die Angebote der Berner Gesundheit sind auf verschiedenen Seiten wichtig. Die Schulsozialarbeit ist eine niederschwellige Anlaufstelle. Wenn es wegen einer Suchtproblematik eine spezialisierte Begleitung braucht, kann ich auf die umfangreiche Suchtberatung der Berner Gesundheit verweisen. Zudem bietet sie Beratungen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelastenden Familien an. Für das Verständnis und die Verarbeitung von belastenden Situationen, kann es für die betroffenen Kinder und Jugendlichen hilfreich sein, wenn sie von einer Fachperson über die Suchtthematik informiert werden. Weiter beratet die Berner Gesundheit Schulsozialarbeitende, Schulen und weitere Betreuungspersonen von betroffenen Kindern und Jugendlichen.
Was wünschen Sie sich in Bezug auf die Schulsozialarbeit in Ihrer Region?
Anita von Gunten-Feldmann: Ich wünsche mir, dass die Schulsozialarbeit, Betreuungspersonen, Bildungsinstitutionen und Fachstellen mehr in die Prävention- und Aufklärungsarbeit investieren können. Im Bereich Suchtprävention und Unterstützung von betroffenen Familien scheint mir wichtig, dass Kinder und Jugendliche unterstützt werden, mit ihren Gefühlen und Gedanken adäquat umzugehen. Damit meine ich, dass sie nicht zu Suchtmitteln greifen müssen, um die Herausforderungen des Lebens meistern zu können.
Was braucht es aus Ihrer Sicht noch, um die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu unterstützen?
Anita von Gunten-Feldmann: Zentral erscheint mir, dass Familien mit einer Suchtproblematik unkompliziert, niederschwellig und vor allem ohne Stigmatisierung Unterstützung erhalten. Die Stigmatisierung von Personen mit einer Suchtproblematik trägt nicht zu einem offenen Umgang bei und erschwert somit den Zugang zu den vorhandenen Unterstützungsangeboten. Ich erhoffe mir, dass Menschen mit einer Suchtproblematik in unserer Gesellschaft primär als Menschen und nicht als Suchterkrankte gesehen werden können und so der Zugang zu Hilfsangeboten für diese Eltern und ihre Kinder erleichtert wird.
Besten Dank für das Gespräch.
Weiterführende Informationen und Kontakte
Zur Person: Anita von Gunten-Feldmann
Anita von Gunten-Feldmann arbeitet als Schulsozialarbeiterin seit 2019 für die Kinder- und Jugendfachstelle Region Konolfingen. Sie ist dipl. Sozialpädagogin HF mit CAS in systemischer Beratung. In der Vergangenheit arbeitete sie in einer suchttherapeutischen Institution für Familien.
Kinder- und Jugendfachstelle Region Konolfingen
Die Fachstelle bietet in den Gemeinden Arni BE, Biglen, Brenzikofen, Freimettigen, Grosshöchstetten, Häutligen, Herbligen Konolfingen, Landiswil, Mirchel, Niederhünigen, Oberdiessbach, Oberhünigen, Oberthal, Walkringen sowie Zäziwil verschiedene Angebote der freiwilligen Kinder- und Jugendhilfe an (offene Kinder- und Jugendarbeit und Schulsozialarbeit).
Kontakt:
Kinder- und Jugendfachstelle Region Konolfingen, Niesenstrasse 7, 3510 Konolfingen
ki-ju@konolfingen.ch
www.kiju-konolfingen.ch
Nationale Aktionswoche «Kinder von Eltern mit einer Suchterkrankung»
Im Rahmen einer internationalen Bewegung findet vom 13. bis 19. März 2023 in der Schweiz zum fünften Mal eine nationale Aktionswoche statt. Ziel ist es, den Kindern von Eltern mit einer Suchterkrankung eine Stimme zu geben und auf ihre Situation und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Die Berner Gesundheit beteiligt sich mit Partnerinnen und Partnern an den vielfältigen Aktivitäten.
Weitere Informationen und Programm unter: