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Zwei Frauen stehen nebeneinander und unterhalten sich

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«Kinder von suchtkranken Eltern leben vielfach an oder über der Belastungsgrenze»

Wie leiden Kinder unter der Sucht ihrer Eltern? Welche Rolle kommt ihnen in der Therapie der Eltern zu? Welchen Einfluss haben Schulen, Betreuungseinrichtungen oder Gemeinden? Die Fachfrauen Sarah Mollet und Anna-Regula Oberteufer von der Berner Gesundheit geben Auskunft.

Frau Mollet, Frau Oberteufer: Suchtprobleme werden gerne verheimlicht. Schuld und Scham spielen eine grosse Rolle. Gibt es Zahlen, wie viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz und besonders im Kanton Bern in einem Haushalt mit suchtkranken Eltern leben?
Anna-Regula Oberteufer: Sucht Schweiz geht davon aus, dass in der Schweiz etwa 100’000 Kinder in Familien leben, in denen ein Elternteil von Alkohol oder von einer anderen Substanz abhängig ist. Rein rechnerisch müssen wir also davon ausgehen, dass es im Kanton Bern ca. 12’000 Kinder betrifft. Das würde heissen, dass es in jeder Schulklasse durchschnittlich ein bis zwei Kinder aus einer suchtbelasteten Familie hat.

Was geschieht in der Regel mit Kindern, die in einem Haushalt mit suchtkranken Eltern wohnen?
Sarah Mollet: Oft leidet das Kind nicht nur unter der Suchterkrankung des Elternteils, sondern auch unter der belastenden Familienatmosphäre. Häufig ist es sich selber überlassen. Es stellt seine Bedürfnisse zurück und übernimmt Aufgaben, denen es aufgrund seiner Entwicklung nicht gewachsen ist. Manchmal übernimmt es auch die Aufgabe, den Konsum des suchtkranken Elternteils zu überwachen und zu kontrollieren. Hinzu kommt, dass das Kind grossen Stimmungsschwankungen der Eltern ausgesetzt ist. Nicht selten ist es Zeuge, manchmal Opfer von verbaler oder physischer Gewalt. Klarheit und Verlässlichkeit sind im familiären Alltag weniger gegeben. Das Kind fühlt sich oft schuldig und hat das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben. Viele dieser Kinder sind isoliert. Sie getrauen sich nicht, andere Kinder zu sich nach Hause einzuladen. Sie schämen sich für ihre Eltern, sind ihnen gegenüber gleichzeitig sehr loyal. Sie versuchen nach aussen das Bild einer heilen Familie aufrecht zu erhalten. In einer Atmosphäre von Instabilität, Willkür und unklaren Grenzen haben es diese Kinder schwerer, eine gesunde und altersentsprechende Entwicklung zu erleben.

Oberteufer: Kinder erkennen erst mit zunehmenden Alter, dass diese Situation ihrer Familie nicht normal ist. Oft wird von ihnen implizit oder explizit erwartet, dass sie das Familiengeheimnis wahren. So leben sie vielfach an oder über der Belastungsgrenze und bleiben allein mit ihren Gefühlen.

Was trägt zu einer positiven gesundheitlichen Entwicklung von Kindern in einem suchtbelasteten Haushalt bei?
Mollet: Es gibt Kinder aus suchtbelasteten Familien, die sich gesund entwickeln und im erwachsenen Alter keine Sucht oder psychische Erkrankung entwickeln. Schutzfaktoren sind etwa eine geregelte Tagesstruktur, Familienrituale, ein gutes Selbstwertgefühl. Oder die Fähigkeit, mit Schwierigkeiten umzugehen und um Hilfe zu bitten, eine eigene Freizeitgestaltung, Humor sowie eine positive Lebenseinstellung.

Oberteufer: Wenn die Eltern das Kind über ihre Suchterkrankung oder die des Partners, der Partnerin informieren, wird ihm bereits eine grosse Last abgenommen. Wichtig ist es, dass das Kind die Möglichkeit hat, auch ausserhalb der Familie tragende Beziehungen pflegen zu können: zu Gleichaltrigen, Verwandten, Nachbarn, Betreuende in der Kita, Lehrpersonen, Jugendarbeiter usw. Idealerweise hat es eine Vertrauensperson, mit der es sich über seine Gefühle, Verunsicherungen und seine Lebensgestaltung austauschen kann.
Wenn es Eltern, Bezugspersonen, Schulen und Betreuungseinrichtungen gelingt, in der Gemeinde oder Region zusammenzuarbeiten, kann ein unterstützendes Netz geflochten werden. Das setzt voraus, dass Fachleute, die mit Kindern arbeiten, Vernetzungskonzepte haben und direkte Kontakte in der interdisziplinären Arbeit herstellen.

Anna-Regula Oberteufer und Sarah Mollet

Was tut die Berner Gesundheit konkret für die betroffenen Kinder und deren suchtkranke Eltern?
Mollet: Die Berner Gesundheit bietet Beratung und Therapie für suchtbetroffene Eltern an. Die suchtkranken Eltern, ihre Partner oder weitere Angehörige melden sich selbst oder sie werden uns von Behörden, Hausärzten, Psychiaterinnen oder Schulsozialarbeitenden zugewiesen.
Von unserem Ansatz her arbeiten wir systemisch und beziehen den anderen Elternteil, die Kinder oder weitere Angehörige in den Beratungsprozess ein. Suchtbetroffene Eltern haben oft starke Schamgefühle. Damit sie sich offen und konstruktiv mit ihrer Suchtproblematik und deren Auswirkungen befassen können braucht es Empathie, Respekt und Vertrauen. Weiter braucht es einen geschützten Rahmen, damit es ihnen möglich wird ihre Suchterkrankung anzuerkennen und deren Auswirkungen auf das Elternsein wahrzunehmen und zu reflektieren.
Die Kinder vernetzen wir bei Bedarf mit der Erziehungsberatung oder einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin.
In Kooperation mit dem Blauen Kreuz, suchttherapienärn und dem aebi-hus bieten wir ein Kursangebot für suchtbetroffene Eltern und ihre Kinder an: gemeinsam stark!
Oft fragen sich Eltern, ob sie «gute Eltern» sind, und ob sie den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Für suchtbetroffene Eltern ist das nicht anders. Sie befinden sich diesbezüglich aber in einer besonders herausfordernden Situation. Vielen suchtbetroffenen Eltern gelingt es nicht ausreichend, ihre Elternrolle verlässlich und umfassend wahrzunehmen. Mit Unterstützung können sie ihre Kompetenzen erweitern und viel zur Stärkung ihrer Kinder beitragen. Hier setzt das Kursangebot an. Es greift Faktoren auf, die Kinder in ihrer Entwicklung stärken. Das Wohl der Kinder ist für viele suchtbetroffene Eltern ein Ansporn, sich mit ihrer Suchterkrankung und dem Elternsein auseinanderzusetzen.

Oberteufer: Wenn wir mit Kitas, Schulen, der Jugendarbeit und Vereinen arbeiten, geht es in der Hauptsache darum, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen Kinder in belasteten Lebenssituationen gestärkt werden können. Das ist sehr wichtig, da nie alle Belastungen der Kinder erkennbar sind. Mit förderlichen Rahmenbedingungen können alle Kinder erreicht werden.

Wie werden die Kinder in die Suchtberatung bzw. in die -therapie integriert? Welche Rolle spielen sie?
Mollet: Den Kindern wird von Beginn des Beratungs- und Therapieprozesses an Raum gegeben. Mit Fragen und offenem Interesse an die Eltern. Im Weiteren wird beleuchtet, wie suchtbetroffene Eltern sich in ihrer Elternrolle im berauschten, im nüchternen Zustand oder unter Suchtdruck wahrnehmen. Was denken sie, wie ihr Kind sie das letzte Mal im berauschten Zustand wahrgenommen hat, wie es sich wohl gefühlt haben mag? So können die Eltern zur Einsicht gelangen, dass es nicht möglich ist eine Suchtmittelerkrankung zu verstecken, auch wenn es gut gemeint ist. Es ist hilfreich für die Kinder zu verstehen was vor sich geht. Nur so wird es für sie möglich sich nicht schuldig zu fühlen.
Neben der Auseinandersetzung mit der Sucht werden im Beratungsprozess die elterlichen Kompetenzen gewürdigt und gestärkt. Wir thematisieren die elterlichen Grenzen, das Wohl der Kinder wie auch eine mögliche Gefährdung und erarbeiten Strategien im Umgang mit Risikosituationen. Die Eltern werden dadurch in ihrer Elternrolle gestärkt und nehmen ihre Verantwortung ihren Kindern gegenüber bewusster wahr. Das entlastet auch die Kinder.

Im Rahmen von Psychoedukation schauen wir mit den Eltern an, wie sie mit ihren Kindern über ihre Abhängigkeitserkrankung sprechen können. Wir machen die Eltern auf die Unterlagen von Sucht Schweiz aufmerksam oder integrieren sie in den Beratungsprozess. (Eltern vor allem – Eltern trotz allem / www.elternundsucht.ch / www.mamatrinkt.ch / www.papatrinkt.ch / www.boby.suchtschweiz.ch)

Wenn es vom Beratungsprozess her Sinn macht, laden wir die Kinder auch zu einem Familiengespräch ein.

Anna-Regula Oberteufer

Wie merkt man als Aussenstehende, dass Eltern süchtig sind und das Kind leidet?
Oberteufer: Kinder machen oft viele Andeutungen, die nicht verstanden werden, da es unspezifische Signale sind. Diese Zeichen weisen nicht direkt auf eine Suchtproblematik hin. Zum Beispiel können Kinder «lustige» Geschichten erzählen, mental abwesend wirken, aggressives Verhalten zeigen, oft zu spät in die Schule kommen oder überangepasst sein.
Wer wohlwollend und empathisch auf diese Signale reagiert, stärkt die Vertrauensbeziehung zum Kind. Das bedeutet, mit dem Kind im Gespräch sein und Interesse bekunden. Und auch mit den Eltern das Gespräch suchen. Ein Kind wird gestärkt, wenn es wahrgenommen wird, seine Belange vertreten und dabei seine Eltern geachtet werden.

Was bedeutet das für Schulen, die Jugendarbeit oder Tagesstätten?
Oberteufer: Ein institutionelles Bewusstsein, dass es eine gemeinsame Haltung und geklärte Verantwortlichkeiten braucht, ist eine Grundvoraussetzung, damit belastete Kinder gut unterstützt werden können. Das gibt allen Beteiligten Sicherheit. Die Gefahr ist sonst gross, dass Wegschauen einfacher ist.
Früherkennung ist die Aufgabe der ganzen Organisation. Dazu stellen wir Instrumente zur Verfügung, die Organisationen unterstützen, eigene Leitfäden zu erarbeiten.

Wie kann das Umfeld reagieren? An wen können sich Betroffene, Angehörige oder das Umfeld wenden?
Oberteufer: Fachpersonen, die Kenntnis einer Suchtproblematik in einer Familie haben, sollten im Austausch mit Kollegen und Fachstellen nach Wegen suchen, wie sie das Kind stärken, wie sie Eltern auf die Thematik ansprechen und einen vertrauensvollen Kontakt aufbauen können.

Mollet: Es ist empfehlenswert, die eigene Wahrnehmung im Kontakt mit möglichen suchtkranken Eltern mit jemandem auszutauschen. In einem weiteren Schritt kann es hilfreich sein, mit einer Fachstelle wie der Berner Gesundheit Kontakt aufzunehmen, um eine Rückmeldung zur eigenen Wahrnehmung zu erhalten sowie Fachinformationen und Ideen für den weiteren Umgang mit der Situation zu erhalten.

Sarah Mollet

Gibt es Lücken im Angebot? In der Prävention, in Beratung oder Therapie?
Oberteufer: Im Kanton Bern wurden gute Instrumente und Netzwerke unter der Leitung des Kantonalen Jugendamts entwickelt, die Fachpersonen und Eltern unterstützen sollen, sich Hilfe zu holen für Wohl des Kindes und letztlich auch für sich selbst.

Mollet: Aus meiner Sicht gibt es keine Lücken im Angebot. Die Herausforderung liegt viel mehr in einer sorgfältigen Vernetzung und einer offenen, respektvollen interprofessionellen Zusammenarbeit. Zudem stellen Suchtprobleme innerhalb der Familie immer noch ein Tabuthema dar. Um den Kindern und Jugendlichen zu helfen, das Schweigen zu brechen und ihr Leiden zu verringern, muss auch das Tabu in der Gesellschaft gebrochen werden. Da setzt die nationale Aktionswoche für Kinder von suchtkranken Eltern an, wie auch weitere Sensibilisierungs- und Schulungsangebote der Berner Gesundheit.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zu den Personen

 

Sarah Mollet, Sozialarbeiterin FH und MAS systemisch-lösungsorientierte Therapeutin, ist Fachmitarbeiterin in der Beratung und Therapie bei der Berner Gesundheit.

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Telefon: 031 370 70 70

Anna-Regula Oberteufer, Sozialpädagogin FH, ist Co-Leiterin eines Bereichs in der Abteilung Gesundheitsförderung und Prävention der Berner Gesundheit.

E-Mail schreiben

Telefon: 031 370 70 80

Nationale Aktionswoche «Kinder von suchtkranken Eltern eine Stimme geben»

Im Rahmen einer internationalen Bewegung findet vom 11. bis 17. Februar 2019 in der Schweiz erstmals eine nationale Aktionswoche statt. Ziel ist es, den Kindern von suchtkranken Eltern eine Stimme zu geben und auf ihre Situation und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen Die Berner Gesundheit beteiligt sich mit Partnerinnen und Partnern an den vielfältigen Aktivitäten.

Weitere Informationen und Programm unter: www.kinder-von-suchtkranken-eltern.ch